Immer wieder Wurzen

Nachbetrachtungen zur Demonstration am 2. September

“Wir waren sehr erfreut, dass trotz der vorherigen Angstmache auch engagierte Wurzner*innen den Weg auf unsere Demonstration gefunden haben, und hoffen, dass die Demonstration weitere Wurzener*innen für unsere Inhalte sensibilisiert wurden und sich den rassistischen Zuständen in Zukunft entgegenstellen werden”, schreibt die Sprecherin des Bündnisses „Irgendwo in Deutschland“ am Ende einer Pressemitteilung zu der Demonstration verschiedener Antifa-Gruppen am 2. September in Wurzen.

In der Tat: Wenn sich unter den knapp 500 Demonstrierenden auch rund 50 Engagierte aus Wurzen und dem näheren Umland befanden, dann zeigt das zumindest, dass sich nicht alle Menschen von der Panikmache durch Behörden und Medien wirr im Kopf machen lassen, sondern dass ihnen vielmehr bewusst ist, dass das Problem in Wurzen nicht in einer antifaschistischen Demonstration besteht, sondern in einem Ausmaß von Rassismus und Neonazi-Gedankengut, das in Sachsen im Rahmen des Normalen liegen mag, irgendwo anders in Deutschland jedoch nur fassungslos macht. Dass dagegen ein deutliches und entschlossenes Zeichen gesetzt wurde, war notwendig und macht Mut.

Damit sind allerdings auch bereits alle positiven Aspekte benannt. Dass das Sondereinsatzkommando (SEK) überhaupt bei einer Demonstration anwesend war, ist entgegen den Aussagen des Leipziger Polizeisprechers Voigt ganz und gar nicht üblich, sondern höchst unüblich. Wenn sich dieses SEK in voller Vermummung direkt am Sammelpunkt für die Demo zur Schau stellt, dann kann dies nur als bewusster Versuch der Einschüchterung gedeutet werden.

Vollends makaber wird die Angelegenheit, wenn einer der posierenden Beamten seine Einsatzkleidung um ein in Neonazikreisen beliebtes Kennzeichen ergänzt hat. Vollends peinlich die per Twitter verbreitete Erläuterung der sächsischen Polizei dazu: „Die ersten Überprüfungen haben gegenwertig (sic!) keine Anhaltspunkte für eine bewusste politische Aussage oder gar eine Sympathiebekundung mit der rechten Szene ergeben.“

Ich wage an dieser Stelle einmal eine Prognose: Auch weitere Überprüfungen werden nichts in dieser Richtung ergeben. Nicht, weil es in Sachsen keine Polizistinnen und Polizisten mit extrem rechter Gesinnung gäbe, sondern weil dies in Sachsen grundsätzlich ausgeschlossen wird. Und werden solche Fälle – wie wiederholt in der Vergangenheit – doch öffentlich, dann greift man auch zu den unglaubhaftesten Aussagen, um das Unbestreitbare zu bestreiten.

Nicht nur dieser Vorgang zeigt, dass die Polizei auch an diesem Tag eher Teil des Problems als seiner Lösung war. Ein über der Stadt kreisender Hubschrauber, gleich fünf Wasserwerfer, etliche Hundertschaften Polizei aus mehreren Ländern und des Bundes… Über die genaue Zahl der eingesetzten Beamtinnen und Beamten schweigt sich der sonst so redselige Polizeipressesprecher aus. Aus „einsatztaktischen Gründen“, erläutert er. Welch ein Blödsinn! Gäbe es diese tatsächlich, dann wären sie mit dem Ende des Einsatzes hinfällig.

Eine besondere „Geheimwaffe“ blieb in den kommentierenden Medien dagegen unerwähnt: Der sächsische Innenstaatssekretär Wilhelm begleitete – sicherheitshalber stets in unmittelbarer Nähe von Polizeipräsident Bernd Merbitz – die Demonstration während der gesamten Zeit. Etwas, was ich in langen Jahren eigener Demonstrationsbeobachtung in Sachsen noch nie erlebt habe.

Es war ein Bürgerkriegsszenario, das die Behörden arrangiert hatten. Ein Bürgerkriegsszenario wegen knapp 500 Menschen, die ein Grundrecht wahrnehmen wollten. Scheinbar war die Lage so gespannt, dass der Oberbürgermeister der Stadt, Jörg Röglin, aufgefordert worden war, sich „aus Sicherheitsgründen“ von der Demonstration fernzuhalten. Sicher: es wäre gefährlich für die Glaubwürdigkeit der polizeilichen Gefahrenprognose gewesen, wenn er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hätte, dass von den Teilnehmenden dieser Demonstration keine Gefahr ausging. Aber wollte er das tatsächlich? Die Äußerungen der Stadtverwaltung im Vorfeld haben jedenfalls eher zusätzlich Öl ins Feuer geschüttet und eine sachliche Diskussion verhindert.

Sollte es das Ziel des Polizeieinsatzes gewesen sein, die Klagen über den Personalnotstand bei der Polizei in das Reich der Legenden zu verweisen, kann er als gelungen bezeichnet werden. Sollte ein anderes Ziel angestrebt worden sein, muss darauf hingewiesen werden, dass Vorbereitung und Durchführung ungewöhnlich schlampig waren.

Nur einige Beispiele: Da war das Mitglied der Linksjugend, das von den Beamten kurzfristig festgehalten wurde, um sie daran zu hindern, Nazi-Aufkleber von den Wahlplakaten der eigenen Partei zu entfernen. Da waren jene Polizisten, die erst nach Intervention einer Landtagsabgeordneten wenigstens zur Kenntnis nehmen wollten, dass die fragliche Person eben keine Sachbeschädigung begangen hatte. Da waren jene Bundespolizisten, denen man im Vorfeld offenbar eingetrichtert hatte, keinen anderen Satz zu sagen als: „Dies ist eine polizeiliche Maßnahme.“ Da gab es die (ungewöhnlich zahlreichen) Mitglieder der polizeilichen Kommunikationsteams, die entweder nur miteinander kommunizierten oder mit freundlich-ermahnenden Worten an die zahlreichen provozierenden Neonazis am Rande der Demonstration wandten, wenn diese es sogar nach Meinung der Beamten zu arg trieben.

Natürlich muss man dem Polizeipressesprecher glauben, wenn er beteuert, er habe keine Hitler- oder Kühnen-Grüße gesehen, die zu ahnden gewesen wären. Konnte er auch nicht, konnten auch die restlichen mehreren hundert Beamten nicht. Nicht, weil es sie nicht gegeben hätte, sondern weil der Einsatzbefehl offenbar besagte, dass die Gefahr von der Demonstration ausgeht. Und zwar ausschließlich. Und so waren die Demonstrierenden stets fest im Blick der Polizei, die umherstreifenden Neonazis dagegen stets außerhalb ihres Blickfeldes. Trotzdem kam es zu fünf Anzeigen, übrigens ausnahmslos gegen örtliche Neonazis.

Ja, es wird noch einiges aufzuarbeiten geben nach diesem 2. September in Wurzen. Auch im Landtag. Und es wird politisch einiges auszuwerten geben. Wir werden uns Fragen stellen müssen. Beispielsweise: Was hat sich tatsächlich geändert in Wurzen seit den Neunziger-Jahren und in welchem Umfang? Wo liegen Versäumnisse der Stadtverwaltung, des Stadtrates und der Polizei bezüglich des anhaltenden Neonazi-Problems in Wurzen? Wenn sich die Panik im Rathaus ein wenig gelegt hat, dann wäre es wohl angesagt, jenseits all der hehren Worte und jenseits des Selbstlobs sich den Realitäten zu stellen und bei einer Art Rundem Tisch gemeinsam nach Wegen zu suchen, den Problemen Neonazis und Rassismus wirksam zu begegnen.

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