Eine antifaschistische Demonstration im Muldental wird geschmäht, bevor sie stattgefunden hat. Dabei gibt es gute Gründe, am 2. September auf die Straße zu gehen.
Am 2. September soll in Wurzen eine antifaschistische Demonstration stattfinden. An der Planung halte ich keine Aktien, bin nicht um Unterstützung gebeten worden, sondern habe davon – wie andere engagierte Menschen in der Region auch – aus der Zeitung erfahren. Von einem „zweiten Hamburg“ war da die Rede, das sich in dem hundertsechzig Mal kleineren Wurzen abspielen könne. Dabei unternehme man in Wurzen doch so viel, um „dem Extremismus vorzubeugen“. Zum Beispiel, indem man den Nachwuchs „in Lohn und Brot“ bringt.
Das eine hat, wie die Geschichte zeigt, mit dem anderen zwar nichts zu tun. Aber noch der dürrste Strohhalm ist recht, um den zarten „Ruf Wurzens als weltoffene Stadt“ gegen ein „unsägliches Pauschal-Urteil“ zu behaupten. Der Chef der Lokalzeitung spricht von Hetze, und die sei „nicht weniger gefährlich, als eine Demo angetrunkener Neonazis vor einem Flüchtlingslager.“
Hier sind sämtliche Sicherungen durchgebrannt, deshalb der Reihe nach: Der Hamburg-Vergleich rührt daher, dass der Anmelder der Demonstration in Hamburg lebt. Das ist der örtlichen Verwaltung bekannt, weil die Demonstration ordentlich angemeldet wurde. Den Medien wurde das bekannt, weil der Schutz personenbezogener Daten hintangestellt wird. Die Sorge vor Rechtsbrüchen ist also begründet – nur gingen sie bisher nicht von denen aus, die mit der Demonstration zu schaffen haben. Ihnen wurde in der bisherigen Berichterstattung kaum Gehör geschenkt. Dabei haben sie einen langen Aufruf vorgelegt, in dem sie ihre Beweggründe erklären.
Lieber streitbar sein als länger wegschauen
Man muss diesem Aufruf nicht in jedem Punkt zustimmen. Er will streitbar sein, und natürlich enthält er Zuspitzungen. Aber er ist immer noch differenzierter als die Auffassung, zu der sich der Chef der Lokalzeitung hat hinreißen lassen. Der Aufruf ist moderater als die im wahrsten Sinne des Wortes verfassungsfeindlichen Forderungen, das Versammlungsrecht zu beschneiden und, warum auch immer, die Demonstration prophylaktisch zu verbieten. Und er ist gerechter als Versuche, die Anliegen, die auf die Straße getragen werden sollen, zu kriminalisieren.
Vor allem macht der Aufruf klar, dass es nicht um den Ruf Wurzens geht, den man meint, sich erworben zu haben wie eine weltoffene Stadt vom Format, sagen wir, Hamburgs. Sondern es geht darum, dass es in der jüngsten Zeit in und um Wurzens zu Entwicklungen kam, die in der Tat bedenklich sind, die benannt werden müssen und bekämpft gehören. Dazu gehört eine Serie rassistischer Versammlungen, die Anfang 2015 begonnen hat und immer wieder Tummelplatz für Neonazis wurde. Dagegen wurde nicht eingeschritten, obwohl teils keine Anmeldungen vorlagen – dafür aber wiederholte Aufrufe, eine „Bürgerwehr“ zu bilden. Zwar ist es (trotz personeller Überschneidungen) nicht gelungen, ein Protestformat im Stile Legidas zu etablieren. Aber es folgte eine bis heute anhaltende Gewalt-Kampagne, die sich vor allem gegen Migrantinnen und Migranten richtet – bis hin zu Angriffen auf Wohnungen, auf Familien und Kinder. Niemand behauptet, dass das ein Alleinstellungsmerkmal Wurzens wäre. Aber solche Gemeinsamkeiten mit Orten wie Freital zu teilen ist auch kein Ruhmesblatt, sondern ein wunder Punkt.
In den Statistiken von Opferberatungsstellen sticht Wurzen klar heraus. Nicht nur der Zahl der Vorfälle wegen, sondern auch durch die zunehmende Brutalität, unter der die Betroffenen zu leiden haben und die offenbar nichts anderes als ihre Vertreibung bewirken soll. Man muss keiner „linken Szene“ angehören, um das kulturlos, dumm und unmenschlich zu finden. Unhaltbar ist zugleich, dass die polizeiliche Aufklärungsquote bei rechtsmotivierten Straftaten im Landkreis geringer ist als irgendwo sonst in Sachsen.
In den 1990er Jahren hatte sich Wurzen den leider begründeten Ruf erworben, nicht „die“, aber eine Hochburg der extremen Rechten zu sein. Seitdem ist viel passiert, es gibt engagierte Menschen und sinnvolle Projekte vor Ort, und wir tun gut daran, sie nach Kräften zu unterstützen. Anders, als es der Demo-Aufruf behauptet, gibt es auch in Wurzen keinen „völkischen Konsens“. Aber was es gibt, ist eine Kultur des Wegschauens und Normalisierens: Innerhalb weniger Tage war in der Presse ungleich mehr darüber zu lesen, was bei der Demonstration vielleicht passieren kann, als darüber, was in den vergangenen beiden Jahren tatsächlich passiert ist. Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, mussten Hals über Kopf umquartiert werden, weil sie mit ihrem Leben bedroht werden. An so etwas dürfen wir uns niemals gewöhnen, nicht in der Ringelnatz-Stadt, nirgendwo.
Die Neunziger sind vorbei, aber…
Klar doch, die Neunziger sind lange vorbei, Wurzen hat sich entwickelt, zum Besseren. Aber es gibt trotzdem hässliche Kontinuitäten. Dazu gehört eine vitale, als gewaltbereit bekannte Neonazi-Szene, die gerade solche Akteure auffängt, die in einer weltoffenen Stadt keinen Stich sehen würden. Es gibt vor Ort ein verzweigtes, geschäftstüchtiges Netzwerk, das sich vom Neofaschismus ernährt: durch Produktion und Verkauf von Rechtsrock und einschlägigen Klamotten, durch die Organisierung von Szeneevents.
Es gehört zur selben Kontinuität, dass es bis heute viel Mut erfordert, sich gegen solche Zustände zu stellen. Im November 2004 gab es einen bis heute unaufgeklärten Sprengstoffanschlag auf das Netzwerk für demokratische Kultur. Als AntifaschistInnen darauf mit einer Demonstration aufmerksam machen wollten, wurde sie gleich am Bahnhof durch die Polizei aufgerieben. Einem jungen Mann wurden grundlos die Zähne mit einem Knüppel ausgeschlagen, der verantwortliche Beamte konnte nie ermittelt werden.
An den bisherigen Reaktionen auf die geplante Antifa-Demo zeigt sich zweierlei. Erstens stoßen – bis heute – diejenigen, die das Problem thematisieren, auf schärfere Abwehr als diejenigen, die zum Problem beitragen, die sich an anderen Menschen vergreifen. Die einen werden wortstark als fremde Nestbeschmutzer abgetan, die den Ruf der Stadt beschädigen. Über die anderen redet man kaum. Zweitens ist – immer noch – die Basis, auf die sich Engagement gegen Rassismus und die extreme Rechte vor Ort stützen kann, viel zu schmal. Zu einer weltoffenen Stadt wird man nicht im Krebsgang, sondern durch mehr Courage.
Es steht nicht fest, ob es mittels der geplanten Demonstration gelingen kann, irgendetwas zu ändern. Aber der Versuch ist allemal mehr wert als Nichtstun oder ein selbstgerechtes Lamento über den Ruf der Stadt. Die Demonstration kann wenigstens vorübergehend denen den Rücken stärken, die doppelt betroffen sind: von rechter Gewalt und von öffentlicher Ignoranz. Nicht irgendein Aufruf, sondern dieses Minimalziel ist ein ausreichender Grund, sich an der Demonstration zu beteiligen – und auch künftig nicht locker zu lassen.