„Was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution“

Meine Rede zum Luxemburg-Liebknecht-Gedenken in Lindhardt am 2. Februar 2019

Es ist selten, sehr selten, dass ein französischer Roman fast unmittelbar nach seiner Veröffentlichung in deutscher Übersetzung erscheint. Erst recht dann, wenn es sich um einen noch jungen, 1992 geborenen Autor handelt. Edourd Louis, so heißt der junge Mann, hat ein Credo: „Literatur muss kämpfen, für all jene, die nicht selbst kämpfen können!“

Inzwischen ist der junge Mann ein leuchtender Stern am Himmel der französischen Literatur. „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ fragt er im Titel dieses Romans. Er, das Kind einer Arbeiterfamilie, begibt sich zurück in seine Kindheit und damit zugleich auf die Spuren seines Vaters. Des Vaters, der nicht anders war als so viele andere Väter und der ihm das Verständnis nicht geben konnte, das der Junge als schwuler Außenseiter auf dem Dorf so dringend gebraucht hätte. Des Vaters, der nach einem Arbeitsunfall gezwungen ist, für einen Hungerlohn als Straßenkehrer zu arbeiten. Edouard Louis schildert am Beispiel seines Vaters die Geschichte des Sozialabbaus in Frankreich. Die französische Entsprechung zu Hartz IV nennt sich, die Menschen verhöhnend, RSA, „Revenu de solidarité active“: „Einkommen für aktive Solidarität“. Dessen Einführung 2009 zwang den Vater von Edouard Louis trotz seines kaputten Rückens als Straßenfeger zu arbeiten.

Der konservative Präsident Nicolas Sarkozy hatte vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Schröder gelernt. Und so kommt Louis zu der Schlussfolgerung: „Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac. Für deine Leidensgeschichte gibt es Namen. Deine Lebensgeschichte ist die Geschichte dieser Figuren, die aufeinandergefolgt sind, um dich fertigzumachen. Die Geschichte deines Körpers ist die Geschichte dieser Namen, die aufeinandergefolgt sind, um dich zu zerstören. Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“

Die Namen sind die von Konservativen, von Liberalen und nicht zuletzt und immer wieder die von Sozialdemokraten. Der nie politisch aktive Vater fragt den Sohn bei dessen letzten Besuch: „Machst du immer noch Politik?“ Der Roman endet dann mit der Antwort des Sohnes „Ja, jetzt mehr denn je.“ und dann mit den Zeilen: „Du ließest drei, vier Sekunden verstreichen, du schautest mich an, dann sagtest du: „Recht so, Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.“

Es ist noch nicht zu beurteilen, ob aus der Bewegung der Gelbwesten in Frankreich

eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft, nennen wir es ruhig eine „ordentliche Revolution“, erwachsen könnte. Die Möglichkeit dazu, und damit für viele die Hoffnung darauf, ist jedenfalls gegeben. Edouard Louis unterstützt diese Bewegung aktiv. Jene Bewegung, die die tagtägliche strukturelle Gewalt als offene Gewalt auf der Straße wieder sichtbar gemacht hat. Eine eigentliche friedliche Form des zivilen Ungehorsams, die massenhafte Blockade von Verkehrsknotenpunkten, wandelte sich zu Straßenschlachten. Offizielle Kreise sprechen von 2000 verletzten Demonstrierenden und 1000 verletzten Polizisten, hinzu kommen ein Dutzend Tote bei Unfällen am Rande. Die Polizei setzt Gummigeschosse, Wasserwerfer und Tränengas ein. Es ist ein Bürgerkriegsszenario. Der Krieg, den die Regierung Macron tagtäglich unsichtbar gegen das eigene Volk führt, wird nun auf den Straßen und Plätzen sichtbar. Und es gibt Bilder mit Symbolkraft. Während des letzten Protestsamstags war der Präsident wieder einmal nicht im Lande. Er war auf Staatsbesuch in Ägypten. Ein Bild bleibt davon: Das Bild der Turnschuhe seiner Frau Brigitte, Turnschuhe der Marke Louis Vuitton, das Paar zu 760 Euro.

Dieser Präsident wird nicht müde, die Kosten, die die Aktionen bisher verursacht haben, vorzurechnen. Er hat geglaubt, die Proteste mit einigen teuren und ihrer Wirksamkeit zweifelhaften sozialen Zugeständnissen beenden zu können. Nun schürt er die Angst vor dem drohenden Chaos.

Aber dieser Präsident Macron wird doch von den deutschen Medien, von Merkel über Olaf Scholz von der SPD bis zu Frauke Petry und neuerdings auch den Freien Wählern einhellig bejubelt? Hat es nicht gerade in Aachen den Elysee II-Vertrag gegeben? Der linke Soziologe Didier Eribon kontert: „Ich habe stets gesagt, für Macron stimmen ist nicht gegen, sondern für Marine Le Pen stimmen. Es ist nicht ein Stimmen für Europa, sondern eines gegen Europa. Macron hat nur Wut und die Zurück​weisung des europäischen Projektes provoziert. Das habe ich schon vor andert​halb Jahren geschrieben und wurde schwer beschimpft, insbesondere in der deutschen Presse, die glaubte, Macron werde der Retter Europas sein. Vielleicht hätte man ja gut daran getan, etwas besser hinzuhören.“

Und sein Kollege Geoffroy de Lagasnerie ergänzt: „Ich denke, dass es ein großer Moment für die Linke ist. Nach einem Monat der Mobilisierung haben immer noch 70 Prozent der Bevölkerung die gilets jaunes unterstützt. Die Popularität der Bewegung ist erstaunlich.“ Geoffroy de Lagasnerie weiß natürlich um die auch in Frankreich seit Jahrzehnten anhaltende Krise der Linken. Und er analysiert deshalb: „Heute geht es darum, eine wirklich soziale Linke wieder aufzubauen und ihr eine Sprache zu geben. Dieser Wiederaufbau muss durch einen Bruch mit der Art und Weise geschehen, wie die Linke sich die letzten Jahrzehnte organisiert hat – ganz einfach deshalb, weil sie den Kampf um die kulturelle Hegemonie verloren hat. Ich bin überzeugt, dass die gilets jaunes einen wichtigen Moment dieses Wieder​aufbaus darstellen. Die Gruppe Adama und andere anti​faschistische Komitees spielen dabei eine wichtige Rolle. Das sind jedoch politische Kräfte, die davor im System der klassischen Linken, im Rahmen der normalen demokratischen Prozesse, der Gewerkschaften, der repräsentativen Instanzen vollkommen marginalisiert worden sind.“

De Lagasnerie hat Hoffnung und macht Hoffnung: „Heute zeigt sich, dass man eine Sprache schaffen kann, die geteilt wird von jemandem wie Edouard Louis Vater – einem älteren, weissen Arbeiter, der den Produktions​bedingungen zum Opfer gefallen ist – und Assa Traoré, einer jungen, schwarzen Frau, deren Bruder in einem Polizei​kommissariat zu Tode gekommen ist. Sie sind gemeinsam auf der Straße, und sie sprechen dieselbe Sprache. Genau daran ist die Linke bisher gescheitert, am Erfinden einer Sprache, in der sich verschiedenste Gruppen wiedererkennen, die Land​bevölkerung, die Banlieues, die Arbeitslosen, die Arbeiter ohne Fest​anstellung, die Jugendlichen. Die gilets jaunes schaffen das. Deshalb liegt hier die linke Zukunft.“

Didier Eribon sieht auch die Gefahren. Die staatliche Gewalt habe nie dagewesene Dimensionen erreicht. Frankreich steuere auf ein autoritäres Regime zu. Ein autoritäres Regime, so muss hier in Deutschland ergänzt werden, das von einen Präsidenten errichtet wird, der lange Jahre zu den Sozialdemokraten gehörte, zu dem zahlreiche sozialdemokratische Spitzenpolitiker übergelaufen sind. In dieser Situation macht der Schriftsteller Edouard Louis etwas, was in Deutschland undenkbar wäre: Er rechtfertigt auch die Gewalt der Demonstrierenden:

„Aber ebenfalls sehr wichtig und bewegend ist die Tatsache, dass die Herrschenden sich fürchten. Sie haben Angst, und das ist wundervoll. Die Gewalt und die Zerstörungen machen der herrschenden Klasse Angst, sie teilen endlich die Erfahrung, die das Leben von so vielen Menschen permanent beherrscht. Nichts ist wichtiger, als dass die Mächtigen sich fürchten.“

Didier Eribon sieht einen Erfolg der sozialen Bewegung der Gelbwesten bereits heute: „Es hat sich ja schon erwiesen, dass der heutige Volks​aufstand den weiteren Abbau des Sozial​staats stoppen wird. Und ich glaube, das gilt nicht nur für Frankreich, sondern auch für andere Länder Europas. Auf den Champs-Élysées wurde zum Beispiel eine Chanel-Boutique verwüstet, was einem natürlich sehr leidtun muss. Wenn man aber all die zerstörten Existenzen anschaut, die seit Jahren zu Opfern unserer Regierungen werden, dann erscheint mir diese Gewalt sehr viel gravierender als eingeschlagene Schaufenster​scheiben. Die Leute haben genug von der sozialen, ökonomischen, politischen und repressiven Gewalt, unter der sie leiden.

Deshalb setzten sie ein Stopp-Signal, einen Warn​schuß. Viele Dinge sind jetzt nicht mehr möglich. Die meisten Kommentatoren sind sich ja einig, dass die Macron-Präsidentschaft de facto beendet ist. Die Reformen, die er anpeilte, wird er nicht mehr umsetzen können.“

Gut so. Sehr gut. Dirk Panther, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Sächsischen Landtag, ist schuld daran, dass plötzlich die französischen Gelbwesten zum Thema meiner heutigen Rede geworden sind. Am Donnerstag gab es im Landtag eine Debatte zur politisch motivierten Gewalt. Panther trat ans Mikrofon und erklärte allen Ernstes: „Die SPD hat in ihrer über 150jährigen Geschichte noch niemals politisch motivierte Gewalt gut geheißen.“ Soso. Wann ist eigentlich Gustav Noske aus der SPD ausgeschlossen worden? War das vor oder nach dem Ausspruch „Einer muss den Bluthund machen.“? War das vor oder nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht? Die Zusammenarbeit von Ebert, Scheidemann und Noske, die Zusammenarbeit der gesamten SPD mit den mörderischen Freikorps hat es also nie gegeben? Den Befehl des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel, am 1. Mai 1929 auf demonstrierende Arbeiter zu schießen, den hat es also nie gegeben? Dirk Panther müsste ein sehr schlichtes Gemüt sein, wenn er dies vergessen hätte.

Und wir alle hier wissen natürlich nur zu genau, dass jeder einzelne ertrunkene Geflüchtete im Mittelmeer ein Opfer von Gewalt ist, einer Gewalt, die heute auch die SPD zu verantworten hat. Wir wissen, dass jeder einzelne Obdachlose ein Opfer ist.

Ein Opfer struktureller Gewalt dieser Gesellschaft. Wir wissen, dass Hartz IV und Angst vor Arbeitslosigkeit Formen der Gewalt sind. Natürlich sind diese Wahrheiten der SPD unangenehm. So unangenehm wie die Erinnerung daran, dass die Mörder von Liebknecht und Luxemburg nur die willigen Handlanger der SPD waren.

Ich bin mir sicher, dass beide, besonders aber Rosa Luxemburg, heute voller Hoffnung nach Frankreich und auf die Bewegung der Gelbwesten geschaut hätten.

Nicht zuletzt Rosa Luxemburgs Arbeiten über den Spontaneismus zeugen davon, dass sie auch über sozialistische Politik jenseits einer Partei nachdachte, dass sie nur zu genau wusste, dass man eine wirkliche Bewegung nicht von oben verordnen kann, dass sie oftmals spontan und auf der Straße entsteht. Dann braucht man nicht „revolutionäre Geduld“ und geduldiges Abwarten, dann hat man zur Stelle zu sein, zupackend und unterstützend. Als Teil der Bewegung, mit den eigenen Erfahrungen.

Nicht als Avantgarde. Dort liegt unsere Chance. Aber solche Bewegungen kann man nicht verordnen. Aber: Man kann und man sollte von ihnen lernen. Dort liegt unsere Chance als Linke.

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