Fünf Jahre danach

Heute, auf den Tag genau, jähren sich die Ereignisse in Eisenach und Zwickau, die als Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ bekannt wurden. Aus diesem Anlass haben die Linke-FachpolitikerInnen in den Untersuchungsausschüssen der Länder und des Bundes kürzlich eine gemeinsame Erklärung herausgegeben, die auf eine Fortsetzung der – nicht nur – parlamentarischen Aufklärung drängt und vor den aktuellen Gefahren eines neuen – und fortgesetzten – Rechtsterrorismus warnt.

In diesem Sinne werden am kommenden Montag auch im Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages erneut Zeugen vernommen werden. Über die bisherigen Sitzungen berichtet fortan die unabhängige Initiative NSU-Watch Sachsen. Einen breiten Überblick über die extreme Rechte im Raum Chemnitz, aus der heraus ein militantes Neonazi-Netzwerk den NSU unterstützte, bietet die soeben neu aufgelegte Broschüre „Rechts sind doch die anderen!?“

Morgen wird unter dem Motto „Kein Gras drüber wachsen lassen!“ eine Demonstration in Zwickau stattfinden. Und nach wie vor bietet das Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“ mit einem umfangreichen Rahmenprogramm Gelegenheit zur Diskussion. In der Westsächsischen Hochschule Zwickau ist aktuell auch die empfehlenswerte Ausstellung „Versagen mit System“ zu sehen. Zur Vernissage war ich leider erkrankt. Meine Gedanken, die ich mitteilen wollte, dokumentiere ich nachfolgend:

 

Demnächst wird es fünf Jahre her sein, dass sich die Augen der ganzen Republik auf Zwickau richteten. Am Mittag des 4. November 2011 werden im thüringischen Eisenach nach einem Raubüberfall zwei Leichen gefunden: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Rund drei Stunden später steht ein Wohnhaus in der Zwickauer Frühlingsstraße 26 lichterloh in Flammen, begleitet von einer Explosion. Eine der Bewohnerinnen versucht, ein letztes Mal zu fliehen: Beate Zschäpe.

Sie ist inzwischen Deutschlands berühmteste Angeklagte in einem der spektakulärsten Strafprozesse unserer Zeit. Die Brandstiftung in ihrer letzten Unterkunft hat sie inzwischen eingeräumt, eine Verurteilung dafür gilt als gewiss. Vorgeworfen wird ihr und einigen mutmaßlichen Unterstützern aber sehr viel mehr. Denn die tausenden Fundstücke in der Zwickauer Brandruine zeichneten rasch das Bild einer rechtsterroristischen Gruppe. Wir kennen sie heute als „Nationalsozialistische Untergrund“.

Dieser Gruppe werden zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle zur Last gelegt. Die Taten wurden quer durch die Republik begangen, verteilt auf knapp 14 Jahre. Die meiste Zeit davon hielt sich der NSU in Zwickau versteckt, bald war deshalb von der „Zwickauer Zelle“ die Rede. Den Begriff halte ich für unangemessen. Und zwar nicht, weil der Stadt dadurch Unrecht getan würde. Im Hinblick auf das Leid der Betroffenen und Hinterbliebenen ist das ein völlig unangemessener und ziemlich herzloser Einwand. Falsch an der Bezeichnung „Zwickauer Zelle“ ist etwas anderes. Nämlich die Unterstellung, man hätte es mit einer lokalen, gut abgeschotteten und daher weithin unsichtbaren Gruppe zu tun gehabt.

Richtig ist, dass hinter dem NSU ein weit verzweigtes Neonazi-Netzwerk stand. Zwickau war ein Knotenpunkt in diesem Netzwerk. Richtig ist auch, dass Zwickau die Wahlheimat des NSU wurde. Die Mörder kamen von hier, genau wie einige ihrer mutmaßlichen Unterstützer.

In der Mitte des Jahres 2000 waren Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe von Chemnitz nach Zwickau gezogen. Für ein knappes Jahr, so kann es heute nachvollzogen werden, lebten sie in der Heisenbergstraße 6. Im Mai 2001 zogen sie um in die Polenzstraße 2 und sieben Jahre später abermals, nun in die Frühlingsstraße 26. Dort ist heute nur noch eine grüne Wiese zu sehen, es wächst also buchstäblich Gras über die Sache. Nichts wäre besser geeignet, das große Vergessen zu symbolisieren, das sich schneller breit macht, als die Aufklärung im NSU-Komplex voranschreitet.

Zwickau war für den NSU ein ruhiger Hafen. Von hier aus wurden Mordanschläge vorbereitet. Von hier aus zogen die Täter los. Und hierher zogen sie sich immer wieder zurück. Nach außen, das berichten viele Zeuginnen und Zeuge, mochten sie wie ganz normale Leute wirken. Der Schein war Absicht – wie die mehr als 15 falschen Namen, die das sogenannte Trio nutze. Manche Namen waren frei erfunden. Manche stammten von ganz unbescholtenen Leuten. Manche von Gesinnungskameraden.

Der Zwickauer Neonazi André Eminger ist einer davon, er ist neben Zschäpe am Oberlandesgericht München angeklagt worden. Gegen seine Ehefrau Susann E. sowie gegen den Neonazi Matthias D. ermittelt nach wie vor der Generalbundesanwalt wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die Beschuldigten sollen unter anderem bei der Suche und Anmietung der Zwickauer Wohnungen behilflich gewesen und Ausweisdokumente überlassen haben. Das funktionierte augenscheinlich reibungslos – obwohl diese Helfer aus der rechten Szene kamen und die Kameradschafts-Gruppen, in denen sie aktiv waren, zum Teil seit langem im Fokus von Polizei- und Verfassungsschutz-Behörden standen.

Heute müssen wir uns gerade deswegen fragen, ob es sich beim NSU wirklich um „unentdeckte Nachbarn“ handelte. Ein ganzes Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern hat diese Frage in den Mittelpunkt gestellt und versucht weiterhin – wie auch wir im Sächsischen Landtag – sie zu beantworten. Wir wissen inzwischen, dass rund um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie im Kreise des Unterstützernetzwerks etliche V-Leute platziert waren. Wir kennen auch die Beteuerungen, dass diese staatlich bezahlten Neonazis nichts über den NSU berichtet hätten.

Angesichts von Akten, die zu einem Teil vernichtet wurden und zu einem anderen Teil immer noch geheim gehalten werden, ist das eine reine Glaubenssache. Fakt ist aber, dass Behörden aus Thüringen wie auch aus Sachsen ganz kurz, nachdem Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Anfang 1998 untergetaucht waren, sehr wohl wussten, wo sie sich versteckt hielten: in Chemnitz. In den Akten aus dieser Zeit standen bereits die Namen möglicher Unterstützer und die Adressen möglicher konspirativer Unterkünfte. Diese Informationen waren vollkommen zutreffend.

Im Dunkeln liegt aber zum einen, woher diese Informationen kamen. Und unklar ist zum anderen, warum man diese Informationen nicht dafür nutzte, das sogenannte Trio festzunehmen. Denn damals bestanden Haftbefehle. Wären sie vollstreckt worden, wie es sich gehört, hätte die Mordserie womöglich verhindert werden können. Einige Zeugen aus der rechten Szene berichteten inzwischen, dass sich die angeblich untergetauchten „Kameraden“ keineswegs versteckt hielten, dass man ihnen ganz zufällig begegnen konnte und dass sie sogar an Szene-Stammtischen teilnahmen.

Doch die Fahndung nach den flüchtigen Bombenbastlern aus Jena wurde im Herbst 2000 viel zu früh eingestellt – so scheint es jedenfalls. Denn noch Ende 2001 und Anfang 2002 tauschten sich thüringische und sächsische Ermittler über mögliche neue Fahndungsansätze aus. Dazu gehörte die Vermutung, dass eine Verbindung in die Zwickauer Szene bestehen könnte. Auch hier ist nicht klar, worauf diese wiederum völlig zutreffende Vermutung zurückgeht.

Als eine mögliche Kontaktperson wurde damals kein Geringerer als Ralf Marschner aktenkundig gemacht. Jahrelang war er eine Leitfigur der rechten Szene in und um Zwickau – und er war unter dem Decknamen „Primus“ einer der bedeutendsten V-Männer des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Ralf Marschner lebt heute in der Schweiz, die ihn nicht ausliefert. Das ist bedauerlich, denn auch unser sächsischer Untersuchungsausschuss hätte ihm viele Fragen zu stellen.

Unsere Fragen richten sich natürlich auch an die Verfassungsschutz-Behörden. Sie wussten angeblich nicht, wo Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe steckten und was sie trieben. Aber Anfang der 2000er Jahre notierten diese Behörden in geheimen Dossiers, dass die gesuchten Neonazis bereits an der Schwelle zum Rechtsterrorismus stehen – mehr als ein Jahrzehnt, bevor sich der NSU selbst enttarnte. Die damalige Einschätzung war auch in dieser Hinsicht erstaunlich korrekt. Aber auch hier wissen wir bis heute nicht, worauf sich diese Annahme stütze.

Um die Verwirrung perfekt zu machen, notierten dieselben Behörden in ihren öffentlichen Berichten immer wieder und offenbar wider besseres Wissen, dass in ganz Deutschland schlichtweg kein Rechtsterrorismus existiere. Das sind dieselben Behörden, die sich heute vehement gegen weitere Aufklärung im NSU-Komplex sperren. Das sind dieselben Behörden, die bis heute Rassismus nicht ernst nehmen.

Hier sind wir bei einem Kernproblem angelangt: Das Staatsversagen, das wir im NSU-Komplex beobachten können, setzt sich bis in die Gegenwart fort. Für die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit war der NSU eine Zäsur – für die Sicherheitsbehörden aber im Großen und Ganzen nicht. Die Gefahr des Rechtsterrorismus ist dabei aktuell geblieben: Seit Frühjahr 2015 wurden in Sachsen zwei neue mutmaßlich rechtsterroristische Gruppen ausgehoben. Doch es gab auch eine ganze Reihe von Anschlägen etwa auf Asylunterkünfte, migrantische und muslimische Einrichtungen, bei denen bisher keine Täter ermittelt wurden.

Wir gehen darüber allzu leicht hinweg, weil „wir“ – die sogenannte Mehrheitsgesellschaft – glauben, nicht betroffen zu sein.

Aber gerade der NSU und seine Wahlheimat Zwickau belehren uns eines Besseren. Im Juli 2001, im September 2002 und erneut im Oktober 2006 wurden in dieser Stadt mehrere Sparkassen-Filialen überfallen. Die Beute in Höhe von rund 85.000 Euro floss in die Kasse des NSU. Bei den beiden ersten Überfällen wurden Filialkunden durch Reizgas verletzt. Beim dritten Überfall wurde einem Auszubildenden in den Bauch geschossen. Polizei und Staatsanwaltschaft erkannten einen Zusammenhang zwischen diesen und acht weiteren Überfällen in Sachsen. Doch eine Sonderkommission wurde nicht gebildet. Die Menschen, die bei den brutalen NSU-Überfällen verletzt wurden, werden bis heute nicht als Betroffene rechter Gewalt gewertet.

Die Beute dieser Überfälle floss augenscheinlich auch in ein stattliches Waffen- und Sprengstoff-Arsenal, das hier in Zwickau lagerte. Über mehr als 20 Gewehre und Pistolen und tausende Schuss Magazin verfügte der NSU. Nur bei drei Waffen ist einigermaßen geklärt, woher sie stammen.

Vieles spricht dafür, dass ein Teil dieser Kampf-Ausrüstung hier in der Region beschafft wurde. Viele bis heute nicht zugeordnete Spuren aus den NSU-Wohnungen und viele Aussagen von Zeugen deuten darauf hin, dass es rings um Zwickau weitere NSU-Helfer gab.

Die „unentdeckten Nachbarn“ – sie sind immer noch hier!

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