Debatte über NSU-Aufklärung: „Besonders desaströs war die Rolle des LfV Sachsen“

Der Sächsische Landtag diskutierte heute über die Ergebnisse des NSU-Untersuchungsausschusses. Das Kulturbüro Sachsen, das Opferberatungsprojekt der RAA Sachsen und die Initiative NSU-Watch Sachsen haben dazu kritische Stellungnahmen vorgelegt. Im Plenum des Landtages hielt ich folgende Rede:


 

Hinterbliebene des NSU-Terrors hielten zum Schluss des Münchener Prozesses auch Plädoyers. Besonders berührt haben mich die Worte von Elif Kubasık , der Witwe des achten Mordopfers Mehmet Kubasık, der 2006 in Dortmund erschossen wurde. Sie sagte:

„1991 sind mein Mann Mehmet, unsere Tochter Gamze und ich als Flüchtlinge hierher nach Deutschland gekommen und haben politisches Asyl erhalten. Mein Mann Mehmet wurde am 4. April 2006 von der Terrororganisation NSU ermordet. Mehmet und ich haben uns sehr geliebt und daraufhin geheiratet. Er war sehr liebevoll, er war sehr besorgt um seine Familie, er war vernarrt in seine Kinder, er hatte eine sehr enge Beziehung zu seiner Tochter Gamze. Jeder Mensch, ob klein oder groß, ob jung oder alt, mochte ihn. All die guten Dinge fallen mir ein über Mehmet, wenn ich an ihn denke, was für ein Mensch er war, wie schön er war, als Mensch, was für ein Vater er war. Mein Herz ist mit Mehmet begraben.“

Weiter sagte Elif Kubasık: „Ich will, dass die Angeklagten hier verurteilt werden, ich will, dass sie ihre Strafe bekommen. Aber für mich wäre weitere Aufklärung auch sehr wichtig gewesen. Hier im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden: Warum Mehmet, warum ein Mord in Dortmund, gab es Helfer […], und für mich so wichtig, was wusste der Staat? Vieles davon bleibt unbeantwortet nach diesem Prozess. Frau Merkel hat ihr Versprechen von 2012 nicht gehalten.“

Das Versprechen von 2012 – das war ein Satz der Bundeskanzlerin, den sie bei einer Gedenkveranstaltung im Februar 2012 sagte. Zitat: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ In Sachsen schließen wir nun den zweiten Untersuchungsausschuss ab, der sich der Aufklärung zum NSU-Komplex beschäftigt hat.

An unserem umfangreichen Sondervotum sehen Sie, dass wir am Ende sehr viele Erkenntnisse erlangt, aber keine einfachen Antworten gefunden haben. Und wir müssen uns teils neue Fragen stellen. Der NSU-Komplex ist keineswegs „aufgeklärt“ – und nichts berechtigt uns zu einem „Schlußstrich“!

Eine klare Absage kann heute aber den Verschwörungstheorien aller Art erteilt werden, die sich um den NSU und die Rolle von Behörden ranken: Es gibt schlichtweg keine Anhaltspunkte dafür, dass der NSU durch sächsische Behörden in irgendeiner Weise „gedeckt“ oder gefördert worden wäre. Was wir jedoch – neben einigen ausgesprochen versierten Beamtinnen und Beamten – gefunden haben, sind andere Beamte, die nicht immer ihr Möglichstes gegeben und manchmal nicht einmal das Notwendigste getan haben. Diese Feststellung beziehe ich ausdrücklich auf das Landesamt für Verfassungsschutz als Ganzes, als Institution.

Eine Reihe mutmaßlicher Unterstützer – davon acht namentlich bekannte Personen aus Sachsen – musste sich bislang nicht vor Gericht verantworten. Und einiges, womit sich auch unser Ausschuss befasste, deutet darauf hin, dass der NSU weitere Helfer und Handlanger gehabt haben muss, die bislang unerkannt geblieben sind.

Zu unseren wichtigsten Fragestellungen gehörte, wie es drei hinlänglich bekannten und gewalttätigen Neonazis 1998 gelingen konnte, in Sachsen unterzutauchen, ohne dass man sie so bald wiederfand. Sie zu ergreifen hätte die NSU-Mordserie verhindert. Es gab frühzeitig zutreffende Hinweise, dass sie sich in Sachsen aufhalten. Daher bezog sich die polizeiliche Fahndung, angeleitet durch das LKA Thüringen, sogar hauptsächlich auf das Gebiet des Freistaates Sachsen. Die grundlegenden Annahmen zum Verbleib waren auch sächsischen Behörden – einigen Polizeieinheiten und dem LfV Sachsen – bekannt.

Es gab auch frühzeitig zutreffende Hinweise, welche sächsischen Neonazis dem „Trio“ helfen und ihnen womöglich Unterkünfte verschaffen. Also überwachte man Personen, die offenbar wirklich mit den Gesuchten in Kontakt stehen. Man observierte Häuser, die offenbar wirklich Anlauforte waren. An solchen Maßnahmen waren sächsischen Behörden – verschiedene Polizeieinheiten und das LfV Sachsen – beteiligt.

Gleichwohl verließen sich sächsische Behörden immer nur darauf, dass die thüringischen Behörden, die immer wieder um Unterstützung ersuchten, allein weiterkommen würden. Niemand im Freistaat verschaffte sich einen Überblick, was zum Fahndungsfall alles bekannt ist – auch nicht die oft gelobte Soko „Rex“. Wir haben aus diesem Bereich nur einen einzigen Beamten kennengelernt, der so etwas wie Eigeninitiative entwickelte.

Besonders desaströs war aber die Rolle des LfV Sachsen. Es stimmt: Nicht alle Informationen, die damals in Thüringen vorlagen, gelangten bis nach Dresden. Aber die Informationen, die hier ankamen, führten mehrheitlich nicht dazu, dass das LfV überhaupt irgend etwas, geschweige denn etwas Sinnvolles unternommen hätte. Dabei war das LfV Sachsen genau die Schnittstelle, an der man nur Eins und Eins hätte zusammenzählen müssen. Das LfV kannte die Informationen der brandenburgischen Quelle „Piatto“ aus dem Sommer 1998. Diese Informationen besagten unter anderem, dass namentlich bekannte Neonazis aus Sachsen versuchen, eine Schusswaffe zu beschaffen. Und dass das „Trio“ einen Überfall begehen will.

Man hat diese Informationen – damals aus Quellenschutz-Gründen – der sächsischen Polizei oder auch einer hiesigen Staatsanwaltschaft nicht vorgelegt, sondern alles für sich behalten. Das änderte sich auch später nicht, als die Quelle enttarnt war und die NSU-Raubserie längst begonnen hatte. In der Zwischenzeit waren die Informationen von „Piatto“ – so drückte es Herr Meyer-Plath selber aus – in der Behörde „versandet“. Als Ende 1998 ein neuer Referatsleiter ins Amt kam, erfuhr er erst nach einigen Monaten, dass man „eigentlich“ nach drei flüchtigen Neonazis sucht.

Es kam noch schlimmer: Im Jahr 2000 begann das LfV Sachsen den Fall „Terzett“, um die Flüchtigen vor allem mithilfe einer Reihe von Observationen in Chemnitz aufzuspüren. Dem Fall „Terzett“ lag kein Konzept zugrunde, es gab kein Lagebild und keine einheitliche Akte – eigentlich nichts von dem, was man erwartet. Zuständig für „Terzett“ war eine junge Sachbearbeiterin, die zu dem Zeitpunkt keinerlei Erfahrung hatte, die den ganzen Vorlauf nicht kannte und offenbar auch nicht die alarmierenden „Piatto“-Informationen. Mit anderen Worten: der ganze Fall hatte für das LfV Sachsen überhaupt keine Priorität.

Es ist in meinen Augen zweitrangig, ob man in der Gesamtschau von „Behördenversagen“ sprechen will oder nicht. Für uns steht fest: Das LfV hätte auf jeden Fall mehr tun können – und es hätte auf jeden Fall mehr tun müssen. Man kann nun, was das LfV angeht, ganz milde vermuten: Es gab Fehler, aber sie liegen lange zurück und man darf nicht das Wissen anlegen, das wir heute haben.

Man kann aber auch ganz ernst zur Kenntnis nehmen, was uns Zeugen berichtet haben, die nach der Enttarnung des NSU für das BKA in Sachsen ermittelt haben. Nämlich, dass das LfV auch dann noch seine Erkenntnisse nur äußerst spärlich an Strafverfolgungsbehörden übermittelte. Und dass, um überhaupt etwas zu erhalten, das BKA sogar drohen mussten, in der Neuländer Straße Akten zu beschlagnahmen.

Noch Monate lang wurden dagegen im LfV – ganz „regulär“ – Akten vernichtet. Die damalige Amtsspitze erklärte uns das so, dass man es leider „nicht auf dem Schirm“ gehabt habe, dass weiterhin geschreddert wird. Man kann das glauben oder nicht. Ob dabei Unterlagen zum NSU verloren gingen, kann niemand sicher sagen. So oder so: Eine professionelle – und vor allem auch eine selbstkritische – Behörde hätte anders gehandelt.

Der Untersuchungsausschuss hatte auch den Auftrag, Schlussfolgerungen aus dem NSU-Komplex zu erarbeiten, also Empfehlungen für konkrete politische Schritte. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen das im Wesentlich nicht für notwendig erachten. Sie sagen: Was geändert werden konnte, wurde bereits geändert.

Ich erinnere mich noch gut: Als wir unseren ersten Ausschuss beendet hatten, war das „Operative Abwehrzentrum“ – das OAZ – das Beweisstück dafür, dass man aus dem NSU-Komplex gelernt habe. Inzwischen hat das OAZ aber nicht nur einen umständlicheren Namen erhalten, sondern es wurde auch als Institution rück-abgewickelt. Besonders nachhaltig war die Staatsschutz-Reform also nicht.

Für das LfV genügt es, zur Amtsspitze zu blicken. Mehrere Untersuchungsausschüsse haben sich – wie wir – mit der Rolle der Quelle „Piatto“ und seinem damaligen V-Mann Führer namens Gordian Meyer-Plath befasst. Unabhängig davon, was man von einem Geheimdienst im Allgemeinen halten möchte, ist jemand, der selbst so tief in den Fallkomplex verwickelt ist, eindeutig eine Fehlbesetzung an der Spitze.

Die vielen verpassten Schritte werden jedenfalls nicht aufgewogen durch Maßnahmen, wie sie jetzt in der gemeinsamen Bewertung von CDU und SPD gerühmt werden: Unter anderem habe man die Tätigkeit des Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur gestärkt. Dagegen habe ich nichts! Es hat nur leider nichts mit unserem Thema zu tun.

Zum Thema haben wir – das finden Sie am Ende unseres Sondervotums – einen langen Katalog von Forderungen aufgestellt. Es sind Schlussfolgerungen, die man ziehen könnte, wenn man nur wollte. Und es sind Schlussfolgerungen, die man ziehen müsste, wenn man tatsächlich „rechtsextreme Netzwerke zerschlagen“ will!

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