Erstmals hat Sachsens Innenministerium Angaben über Strukturen und Aktivitäten sogenannter Reichsbürger gemacht. Anlass war meine neueste Parlaments-Anfrage zum Thema. Es war nicht die erste, nur waren die Fragen jahrelang ins Leere gegangen. Hier die neuen Fakten im Überblick:
Eine „mittlere dreistellige Zahl“ wird in Sachsen den Reichsbürgern zugerechnet
Sachsen ist eines der letzten Bundesländer, das eine solche Schätzung abgibt. Zum Vergleich: In Thüringen sollen es 550, in Brandenburg 300 Personen sein. Spitzenreiter ist Bayern mit 1.700. Insgesamt wird bundesweit von rund 10.000 Anhängern ausgegangen. Nachprüfbar sind diese Werte bislang nicht, auch die Erfassungskriterien sind offenbar nicht einheitlich.
Im Jahr 2016 begingen amtsbekannte Reichsbürger in Sachsen mindestens 254 Straftaten
Stichtag der zugrunde liegenden Erhebung des Operativen Abwehrzentrums war der 25. November. Einen abschließenden Wert gibt es noch nicht, die meisten Verfahren sind noch offen. Nur ein kleiner Tat dieser Fälle wird als rechtsmotiviert bewertet, im Vordergrund stehen viele andere Bereiche:
Um es nüchtern zu sagen: Mit so einem Verhältnis zwischen Personen- und Fallzahlen sind Sachsens Reichsbürger wohl sogar überwiegend kriminell. Ein ähnliches Bild ergab sich bereits aus einer früheren Anfrage zum Deutsche Polizei Hilfswerk (DPHW, hier nachlesen) und den Kriminalbiografien (hier im Detail) von rund 300 mutmaßlichen Mitgliedern, die zum Teil Mehrfach- und Intensivstraftäter waren.
Auf die krassen Bilanzen färbt allerdings ab, dass Sachsens Innenministerium die Reichsbürger vor allem durch die Brille der Polizei betrachtet. Allein mit kriminalistischer Erfahrung wird sich aber kein adäquates Bild einer politischen Strömung gewinnen lassen. Was wir unter den Voraussetzungen nur zu Gesicht bekommen, ist der „harte Kern“, genauer: der Kern, das bereits Grenzen übertreten hat.
Zwei kleine Gruppierungen werden hervorgehoben
Dem Bundestaat Sachsen werden „rund zehn Personen“ zugerechnet, der Exilregierung Deutsches Reich nur „wenige Einzelpersonen“. Die erste Gruppe war bereits vor mehreren Jahren bei polizeilichen Ermittlungen gegen das DPHW aufgefallen. Die zweite Vereinigung wurde vor drei Jahren durch das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz als „rechtsextremistisch“ bezeichnet, sie wird in mehreren Bundesländern beobachtet.
Hintergründe
Keine Verbindungen zum Rechtsextremismus? Reichsbürger „Burgos“ im Juni 2016 in Dresden vor einem Transparent der extrem rechten „Europäischen Aktion“. Bild: Youtube.
Das Making-of der Reichsbürger-Beobachtung
Seit November vergangenen Jahres beobachten die Verfassungsschutz-Behörden von Bund und Ländern einige Teile der Reichsbürgerbewegung. Sie ist ein gemeinsames „Sammelbeobachtungsobjekt“, aber was da gesammelt wird, kann von Land zu Land sehr verschieden sein. Erstmals mitgeteilt wurde jetzt so etwas wie eine amtliche Definition, die in Sachsen angelegt wird:
„Gemeinsame Basis der sogenannten ‚Reichsbürger‘ ist die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung. Aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen, unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht, lehnen sie die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ab. Sie sprechen den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab oder definieren sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend und sind deshalb bereit, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen.“
„Rechtsextremismus“ oder nicht?
Das ist ein Plagiat, Vorlage war Hessen, nur der Begriff „Selbstverwalter“ – eine neuere Spielart der Reichsbürger – ist gestrichen worden. Auffällig auch: In Hessen taucht der Begriff „Rechtsextremismus“ gar nicht auf und in Sachsen wird behauptet, es lägen „keine Erkenntnisse“ vor über Verbindungen zwischen „Gruppierungen, die […] den Reichsbürgern zuzurechnen sind“ und „rechtsextremistischen Gruppierungen“. Noch Anfang November 2016 hatte Innenminister Ulbig etwas Plausibleres gesagt: „Es gibt eindeutig Schnittstellen zum Rechtsextremismus“.
Viel spricht dafür, dass die Reichsbürger künftig nicht als „Sonderfall“ oder Teilgebiet des Rechtsextremismus, sondern als eigenständiges „extremistisches“ Phänomen betrachtet werden. Schon früher hatte der sächsische „Verfassungsschutz“ vertreten: „Die Reichsbürgerideologie als solche wird nicht als rechtsextremistisch eingeordnet.“
Das ist analytisch wohl angreifbar und Ausdruck der gleichen Verlegenheit wie Ulbigs Andeutung in die genaue Gegenrichtung. Handlungsdruck war zuvor infolge mehrerer Gewalttaten entstanden, die mit Reichsbürgern in Zusammenhang gebracht werden. Darunter sind der Schusswechsel im sachsen-anhaltischen Reuden im August und die Tötung eines Polizeibeamten im bayrischen Georgensmünd im Oktober 2016, hinzu kommen Waffenfunde in mehreren Bundesländern. Ganz kurz darauf fertigte, wie gesagt, das OAZ das sächsische Reichsbürger-Lagebild.
Entwaffnung funktioniert nicht
Begleitet von Medienberichten über mutmaßliche Reichsbürger-Sympathisanten bei der sächsischen Polizei sagte Innenminister Ulbig daraufhin zu, zur Entwaffnung von Reichsbürgern beizutragen durch eine Dienstanweisung an die örtlichen Waffenbehörden, bei der einschlägigen Klientel „regelmäßig von einer waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit“ auszugehen. Heißt: Waffenrechtliche Erlaubnisse können verwehrt oder wieder entzogen werden.
Der Teufel liegt aber im Detail. Denn das Ausschlusskriterium, so der Erlass, ist die „erklärte Reichsbürgerzugehörigkeit“. Gruppierungen wie der Bundestaat Sachsen „erklären“ sich aber nicht zu Reichsbürgern, sondern bestreiten vehement, welche zu sein. Unsere kürzlich veröffentlichte Große Anfrage zeigt zudem, wie ineffektiv diese waffenrechtlichen Überprüfungen schon bei amtlich so eingeschätzten Rechtsextremisten ist.
Was die Staatsregierung über Reichsbürger jetzt immerhin weiß, ist immernoch viel zu wenig. Denn die Gefahr ist da, wie der Schlag gegen eine mutmaßliche rechtsterroristische Gruppe in mehreren Bundesländern erst vor wenigen Tagen zeigt. Mehrere Beschuldigte werden dem Reichsbürger-Umfeld zugeordnet. Einer von ihnen, der Antisemit Karl Burghard „Burgos“ B., hat offenbar Verbindungen nach Sachsen. Noch vor wenigen Monaten hielt er bei einer extrem rechten Protestveranstaltung gegen das Bilderberg-Treffen eine Rede – in Dresden.