In den ersten anderthalb Jahren der Pandemie haben in Sachsen mehr als 2.800 öffentliche Protestaktionen stattgefunden. Das ist das Ergebnis einer Detailauswertung von Informationen des Innenministeriums, die bei der Beantwortung einer Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE vorgelegt wurden (Drucksache 7/7644). Die Details:
Demnach kam es abzüglich einiger Dopplungen seit März 2020 und bis einschließlich August 2021 zu mindestens 2869 Versammlungen und ähnlichen Aktionen mit Corona-Bezug, etwa Mahnwachen und sogenannte Spaziergänge. Das sind im Schnitt mehr als fünf Corona-Aktionen pro Tag.
Landkreise Görlitz und Bautzen sind „Hotspots“
Die Angaben beruhen auf Kenntnissen der Versammlungsbehörden sowie auf Einsatzaufzeichnungen der Polizei, die anlässlich unserer Großen Anfrage erstmals zusammengestellt wurden. Einen eigenen Überblick hatte das zuständige Ministerium bislang nicht. Auch die jetzt veröffentlichten Daten sind unvollständig, erlauben aber genauere Einblicke.
Besonders häufig protestiert wurde in den Landkreisen Görlitz (629) und Bautzen (588). Der Grund für diese hohen Zahlen ist vor allem der stark ritualisierte „stille Protest“ entlang der B96. Erst mit deutlichem Abstand folgen die Städte Dresden (271) und Leipzig (230) sowie die Landkreise Mittelsachsen und Zwickau (je 204). Vergleichsweise wenig demonstriert wurde in den Landkreisen Nordsachsen (79) und Leipzig (75) sowie in der Stadt Chemnitz (43).
Thema hat sich verselbständigt
In die Statistik gingen – zu einem geringen Teil – auch Aktionen von Kultur-, Bildungs- und Sportstätten sowie von Gewerbetreibenden mit durchaus nachvollziehbaren Anliegen ein. Hinter den allermeisten Veranstaltungen verbergen sich jedoch Anhängerinnen und Anhänger der „Querdenker“-Szene, teils auch Reichsbürger, Neonazis und die AfD.
In diesem Spektrum hat sich das Thema inzwischen verselbständigt: So war die Zahl der Proteste im Dezember 2020 (153) und im Januar 2021 (102), also auf dem Höhepunkt der zweiten Pandemie-Welle, unterdurchschnittlich. Im Mai 2021 hingegen wurde 371 Mal demonstriert, so oft wie in keinem anderen Monat. Die dritte Welle war da bereits gebrochen.
Keine Massenbewegung, sondern Scheinriese
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich ein großer Teil der Protestbewegung als Scheinriese. Polizeilichen Schätzungen zufolge knackten lediglich neun Mobilisierungen die Tausendermarke, der Anteil solcher Großdemonstrationen bewegt sich im Promillebereich, üblich sind Kleinstaktionen. Mit einer echten Massenbewegung haben wir es also nicht zu tun, sondern mit einer hyperaktiven Minderheit.
Zu deren Praxis gehört es praktisch von Anfang an, auf obligatorische Anmeldungen zu verzichten. Mit jeweils fast 50 Prozent besonders hoch ist der Anteil vorab nicht angezeigter Aktionen in den Landkreisen Bautzen, Leipzig, Meißen und Nordsachsen. In der Stadt Chemnitz sowie im Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge dominieren diese „wilden“ Proteste sogar.
Illegaler Proteste oft „stillschweigend gewährt“
Der häufige Bruch des Versammlungsrechts hat System, aber mit „Widerstand“ wenig zu tun. In Wirklichkeit bleiben die Beteiligten fast immer unbehelligt, nur etwas mehr als ein Prozent der Versammlungen war im Vorfeld verboten worden. Fast immer wurde aber die Durchführung illegaler Proteste „stillschweigend gewährt“, wie sich aus den Daten ergibt – weil die Polizei deeskalieren wollte oder zu wenige Kräfte hatte.
Wenn doch größere Einsätze nötig wurden, kommen sie die Bürgerinnen und Bürger teuer zu stehen. Für die Bereitstellung zusätzlicher Einsatzkräfte stellten andere Bundesländer dem Freistaat bislang knapp 3,3 Millionen Euro in Rechnung. Die Kosten werden sich weiter türmen, denn einige Abrechnungen stehen noch aus.
Etliche Straftaten registriert
Harmlos sind die Proteste keineswegs, auch das zeigt die Statistik. So wurden „im Zusammenhang mit demonstrativen Ereignissen und einem thematischen Bezug zur Covid-19-Pandemie“ bislang 891 politisch motivierte Straftaten erfasst – fast 200 dieser Taten richteten sich gegen Polizistinnen und Polizisten. Auch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Beispielsweise kann das Innenministerium „wegen des hierfür erforderlichen unverhältnismäßigen Aufwandes“ unsere Frage nicht beantworten, bei welchen Veranstaltungen es zu antisemitischen Äußerungen oder Verharmlosungen des Nationalsozialismus kam, etwa durch die Verwendung sogenannter Judensterne, die Schmähung der Bundesrepublik als Diktatur oder den Vergleich des Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz.
Polizei soll deutlicher eingreifen
Immerhin legt sich Innenminister Wöller bei der Beantwortung unserer Großen Anfrage auf die künftige Gangart bei den in den vergangenen Wochen wieder massiv zunehmenden Protesten fest: Die Polizei soll bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung „alle erforderlichen Maßnahmen im Rahmen ihrer Befugnisse treffen“.
Das ist im Rechtsstaat selbstverständlich – und daran werden wir den Innenminister messen.