Auch neun Monate nach dem „Tag X“ in Leipzig gibt es gegen die meisten der 1.324 Personen, die über Nacht und bis zu elf Stunden lang in einem Polizeikessel ausharren mussten, offenbar keine konkreten Vorwürfe. Das ist das Ergebnis einer aus 200 Einzelfragen bestehenden Großen Anfrage der Linksfraktion (Drucksache 7/14904) rund um die Vorgänge am 3. Juni 2023, kurz nach dem Urteil im „Antifa Ost“-Prozess vom 31. Mai 2023. Nähere Angaben zu den laufenden Ermittlungen werden zwar verweigert, teilweise auch zu anderen der 200 Fragen. Doch unverändert gelten die meisten Teilnehmenden der dann eskalierten Kundgebung in der Südvorstadt nicht als gewalttätig.
Dazu erklärt die Leipziger Abgeordnete Juliane Nagel, die seinerzeit vor Ort war:
„Es besteht kein Zweifel, dass es damals zu Angriffen auf die Polizei kam. Doch der gegen den Großteil der Anwesenden erhobene Verdacht des schweren Landfriedensbruchs war eine Ferndiagnose des Polizeiführers René Demmler und des Staatsanwalts. Das führte zu der umstrittenen Massen-Umschließung. Weitere Antworten mehren unsere Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Kessels. So wird die mangelhafte Versorgung eingeräumt: Hatte es zunächst geheißen, dass alle Betroffenen in der Umschließung ein mobiles WC nutzen konnten, ist inzwischen klar, dass ein solches nur zeitweise vor Ort war – und absichtlich außerhalb des Kessels stand.
Als falsch erweisen sich zudem frühere Behauptungen, wonach Demo-Sanitäterinnen und -Sanitäter die festgehaltenen Menschen ungehindert versorgen konnten. In Wirklichkeit wurde ihnen der Zugang ,zeitweise verweigert‘, und das ganz bewusst. Darauf hatten die Sanis mit eigenen Statements hingewiesen, die durch unsere Nachfragen bestätigt werden. Die von ,FragDenStaat‘ zum Kessel veröffentlichten Dokumente und die Antworten auf unsere Anfrage ergeben weitere Widersprüche. Damit gibt es aus unserer Perspektive immer mehr Zweifel an den Aussagen der Polizeidirektion Leipzig und des Innenministers.“
Zahlreiche Angaben des Innenministers Armin Schuster werfen neue Fragen auf. So werden in der Antwort mehrere dutzend Lagebilder und Gefahrenprognosen aufgezählt, die sächsische Behörden seit Februar 2023 für den „Tag X“ erstellten. Ein echtes Einsatzkonzept für die Polizei soll es aber bis zuletzt nicht gegeben haben. Dazu erklärt Kerstin Köditz, innenpolitische Sprecherin:
„Wir haben den Eindruck, dass monatelang vor allem darauf hingearbeitet wurde, ein Verbot der mutmaßlichen ,Tag X‘-Demonstration und weiterer Versammlungen zu erreichen – auf der Grundlage hanebüchener Behauptungen und lange bevor es überhaupt Anmeldungen gab. So entwarf die Polizeidirektion Leipzig ein Szenario, wonach mit ,Plünderungen‘ zu rechnen sei. Auf Nachfrage zeigt sich nun, dass es darauf gar keine Hinweise gab. Auch die Behauptungen über eine großangelegte europaweite Mobilisierung und angeblich geheime Anreisen nach Leipzig waren heiße Luft. Was es gab, waren anonyme Gewaltaufrufe im Internet, deren Urheber bis heute unbekannt sind. Kurz nach dem Einsatz behauptete die Polizei zudem, dass im Kessel Teleskopschlagstöcke gefunden worden seien. In einer Detailauflistung der sichergestellten Gegenstände tauchen diese aber nicht auf. Die behaupteten ,Anschläge‘ auf private PKW von Polizeibediensteten in Paunsdorf hat es ebenfalls nicht gegeben.“
Für die Linksfraktion ist die parlamentarische Aufarbeitung damit nicht erledigt. Beide Abgeordnete schließen:
„Wir werden den weiteren Widersprüchen nachgehen – vor allem den fragwürdigen und durch Augenzeuginnen und -zeugen widerlegten Behauptungen des Innenministers, unbeteiligte und friedliche Menschen hätten den Kessel ,jederzeit‘ verlassen können. Auch den unbeantworteten Fragen um den Einsatz von Tatbeobachtern der Polizei werden wir nachgehen: Waren diese selbst vermummt? Filmten sie verdeckt innerhalb der Versammlung, obwohl sie das nicht durften?“